Jede Reise bedarf eines ersten Schrittes. Wenn jedoch die Reise zu uns selbst führen soll, darf man sich nicht davor fürchten, das Labyrinth der Sinne zu betreten. Am Ausgang erwarten uns Befriedigung, Transformation und Schweigsamkeit.
„CREAtorium – Labyrinth im Labyrinth“ stellt ein aufrichtiges Theatertreffen dar, bei dem alles möglich erscheint. Die Zuschauer werden ihrer passiven Rolle als Betrachter enthoben und gestalten neben den Schauspielern das Geschehen mit. Sollte man ihnen glauben, denn wird man das tiefgreifende Erlebnis haben, sich im Labyrinth der unendlich vielen Möglichkeiten zu verlieren und wiederzufinden.
Die Vorstellung stammt vom „Theater der Sinne“ Sofia, das sich als ein Forschungslabor versteht, indem es an ungewöhnlichen Orten, wie leerstehende Fabrikhallen, Museen, Einkaufszentren und inmitten der Natur inszeniert.
Die klassischen Vorstellungen von Dramaturgie und Regie sind verschwommen, während die Handlung als kollektiver schöpferischer Prozess aufgefasst wird. „CREAtorium“ wird im Nationalen Kulturpalast in Sofia gespielt, jedoch nicht in einem konkreten Saal, sondern zwischen den Stockwerken, auf den Korridoren und in rätselhaften Räumlichkeiten. Es wird ein Labyrinth der Sinne errichtet, das an die Stelle der realen Welt tritt. Das Gefühl für das Hier und Jetzt, das Vordem und das Damals, das Ich und die Anderen wird verzerrt.
Was verbirgt sich hinter dem Theater der Sinne und womit unterscheidet es sich vom traditionellen Theater? Mit diesen Fragen wandten wir uns an Slatina Tolewa, Schauspielerin und Organisatorin der Aufführung.
„Der Unterschied ist sehr groß“, sagt sie. „Beim traditionellen Theater ist das Publikum unbeweglich und befindet sich versteckt im Dunkeln und der Anonymität. Im Theater der Sinne hingegen ist das Publikum der Hauptdarsteller, sozusagen der Hauptheld. Er bewegt sich, trifft sich mit den Schauspielern und von ihm wird Handlung erwartet – er muss seine Erlebnisse und seinen Weg durch das Labyrinth aufbauen. Er ist kein passiver Zuschauer mehr, sondern ein aktiver Schöpfer.“
Jeder Zuschauer besteht ganz individuell das Abenteuer, das voller Sinnesprovokationen ist – alle fünf Sinne werden beansprucht.
„Die Reise durch das Labyrinth kann sehr lang dauern“, erzählt weiter Slatina Tolewa. „Im Dunkeln werden bestimmte Sinne angesprochen – man nimmt verschiedene Gerüche wahr, muss sich anderen anvertrauen und von ihnen führen lassen. Das ist ein ganz persönliches Erlebnis und muss von jedem bestanden werden.“
Slatina Tolewa verriet uns, dass bei jeder Aufführung eine Unmenge neuer Handlungsverläufe entstehen – jeder im Labyrinth kreiert seinen eigenen. Die Aufführung findet bei jedem ganz persönlich statt und provoziert jedes Mal andere Assoziationen und Erinnerungen.
„Das ist etwas, das jeder einzelne für sich erlebt“, sagt Slatina Tolewa. „Die Schlussfolgerungen, die die Teilnehmer für sich ziehen können, hängen ganz davon ab, auf welche Provokation sie am meisten reagiert haben. Das Theater des Labyrinths der Sinne ist eine Einladung zur Erweiterung der eigenen Grenzen des Bequemen und des Bekannten, um mehr über sich selbst zu erfahren. Ziel ist, solche Bedingungen zu schaffen, unter denen die Menschen Vertrauen zeigen und sich öffnen können. D.h. wir wollen ihnen helfen, da wir häufig in Sackgassen laufen und ganz automatisch handeln. Im Theater der Sinne, wo keiner weiß, was ihn erwartet, wo alles neu und unbekannt ist, ist es einfacher, bewusster und aufmerksamer in diesem Augenblick, hier und jetzt, zu werden. Das Schlüsselwort ist Erlebnis.“
Das Theater der Sinne ist im Grunde genommen nichts Neues. Der kolumbianische Anthropologe Enrique Vargas hat diese alten Praktiken nach Europa gebracht. 2006 fand in Bulgarien die erste Aufführung dieser Art statt. Ein Schüler von Vargas, der aus Wales stammende Regisseur und Forscher Iwan Brioc bildete eine erste Gruppe bulgarischer Schauspieler aus. Heute hat das Theater der Sinne viele Vorstellungen und sozial-künstlerische Projekte hinter sich, die von Schauspielern, Regisseuren, bildenden Künstlern, Bühnenbildnern, Musikern und sogar Psychologen gestaltet werden.
Übersetzung: Wladimir Wladimirow
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