Das 45. ordentliche Parlament ist offiziell im Amt. Darin sind zwei Parteien sowie 117 der insgesamt 240 Abgeordneten absolut neu und trotzdem konnte bereits bei den ersten Abstimmungen ein Konsens erzielt werden. Mit 163 Stimmen wurden die neuen Mitglieder des Rates der Vorsitzenden und die neue Parlamentspräsidentin Iwa Mitewa von der Partei „Es gibt ein solches Volk“ gewählt.
Mit einer solchen Mehrheit könnte nach Ansicht von Iwajlo Ditschew, Professor für kulturelle Anthropologie, auch eine neue Regierung gewählt werden. Das klingt hoffnungsvoll, doch ist eine solche Wende tatsächlich möglich?
Den bisher geäußerten Positionen der im Parlament vertretenen Parteien nach zu urteilen ist es unwahrscheinlich, dass die GERB-SDS-Koalition, die die meisten Sitze gewonnen hat, Unterstützung für das von ihr vorgeschlagene Kabinett erhält. Deshalb sind die Blicke jetzt auf die zweitstärkste Parlamentsfraktion von „Es gibt ein solches Volk“ gerichtet. Sie aber hüllt sich in Bezug auf das Mandat für die Kabinettsbildung in Schweigen.
In den letzten Stunden haben eine Reihe von Beobachtern geäußert, dass jegliche Voraussetzungen für die Bildung einer Regierung, die ein volles Mandat absolvieren könnte, nicht gegeben sind. Die wahrscheinlichere Hypothese ist ein Kabinett mit einer kurzen Amtszeit und klaren Zielen. Nach Ansicht von Swetoslaw Malinow, ein Ex-Abgeordneter, könnte eine solche Regierung folgende Aufgaben erfüllen:
Bulgarien durch die Krise führen; das Tempo der Impfungen beschleunigen; bestimmte Beschlüsse verabschieden, die mit den wirtschaftlichen Auswirkungen zusammenhängen und nicht zuletzt den Plan für Wiederaufbau und Nachhaltigkeit bei der Europäischen Kommission einreichen. All das könne gemacht werden bevor zu Neuwahlen übergegangen wird, sagte Swetoslaw Malinow in einem Interview für BNR-Blagoewgrad.
„Das Wahlgesetzt sollte selbstverständlich auch eine Priorität des neuen Kabinetts sein. Die andere Variante ist, dass wir in 5-6 Wochen eine geschäftsführende Regierung haben, die die Neuwahlen vorbereitet“, sagte Malinow und fügte hinzu, dass er tief überzeugt ist, dass die Mehrheit der Bulgaren eine solche Entwicklung nicht wünscht.
Doch auch wenn von Vielen unerwünscht, sei die Hypothese für eine geschäftsführende Regierung durchaus möglich, weil das jetzige Parlament keine Stabilität garantiert.
Bis zu einem gewissen Grad spiegelt das jetzige Parlament die Protestbewegung vom letzten Sommer wider. Alle Teilnehmer sind präsent und da sie sehr unterschiedlich sind, ist ein homogenes, arbeitendes Parlament so gut wie ausgeschlossen, behauptet der Kulturologe Prof. Iwajlo Snepolski.
„Die Proteste gegen GERB bestanden aus drei Segmenten“, erklärt Prof. Snepolski. „Das eine Segment war gegen das System und spiegelte die allgemeine Unzufriedenheit vom Funktionieren der bisherigen repräsentativen Demokratie wider. Doch das ist ein Phänomen, das nicht nur in Bulgarien zu beobachten ist. Dem zweiten Segment gehörten jene an, die dem System nahestehen, aber unzufrieden mit dem Regierungsmodell sind und auf eine institutionelle Reparatur des Staates bestehen. Das dritte Segment besteht aus nervösen Politikern, die zu lange außerhalb der Macht gestanden haben und erneut ihren Platz darin finden wollen. Darunter erkenne ich einige politische Abenteurer, von denen die unterschiedlichsten Positionen erwartet werden können in Abhängigkeit davon, wann sie eine politische Tribüne einfordern“, lautet die schonungslose Feststellung von Prof. Snepolski.
Als Haupttriebkraft für die Aktivität der Wähler im In- und Ausland wird die Hoffnung unserer Landsleute auf Veränderung angeführt. Jetzt stellt sich die Frage, ob diese Veränderung in einem so stark fragmentierten Parlament möglich ist. Die Antwort des Professors für Kulturologie kühlt die Leidenschaften etwas ab und zwingt, den Begriff Veränderung aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.
"Es ist niemandem klar, was genau hinter diesem Wort steckt. Die Menschen sind in verschiedenen sozialen Schichten strukturiert. Jede dieser Schichten hat ihre eigene Vorstellung davon, was passieren sollte. Das Wort Veränderung ist also eher eine Abstraktion, hinter der sich das Fehlen einer konkreten politischen Vision versteckt“, unterstreicht Prof. Snepolski.
Auch der ehemalige Abgeordnete Petar Slawow ist über die Lebenserwartung des jetzigen Parlaments nicht optimistisch. Er hofft jedoch, dass die Forderung nach einer dringenden Überarbeitung des Wahlgesetzes durch die verschiedenen Fraktionen es ermöglichen wird, zumindest zu dieser Frage einen Konsens zu erzielen.
„Durch schnelle Änderungen im Wahlgesetz können die Wahlen repräsentativer und fairer werden“, ist Petar Slawow überzeugt. In Bezug auf andere wichtige Gesetzesänderungen in Bereichen wie der Justiz bleibe abzuwarten, ob die vielen Erklärungen der einen oder anderen politischen Partei für die ehemalige außerparlamentarische Opposition zu konkreten Maßnahmen führen werden.
Ein Beitrag von Joan Kolev, zusammengestellt aus Interviews von Snezhana Iwanowa, BNR-Horizont, Zhiwko Iwanow, BNR-Stara Sagora und Rajna Wantschewa, BNR-Blagoewgrad
Übersetzung: Georgetta Janewa
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