Die Ost-Rhodopen zählen zu den Orten, in die man sich vom ersten Augenblick an verliebt, die einen mit ihrer wilden Schönheit und magischen Ausstrahlung sofort in ihren Bann ziehen und einen sehnsüchtig immer wieder zurückkehren lassen. Aufgrund ihres hügeligen Reliefs werden sie von Dichtern häufig mit einem aufgewühlten Meer verglichen. Für Historiker und Archäologen sind die Ost-Rhodopen die Wiege verschiedener Zivilisationen und Kulturen. Und in der Tat braucht man bei einer Reise in die Rhodopen keine Zeitmaschine, um in die jahrtausendealte Geschichte einzutauchen, auf den Spuren unserer altertümlichen Vorfahren zu wandeln und deren Lebensweise und mystischen Glauben zu erkunden.
In der Innenstadt von Kardschali wurde die älteste Siedlung dieser Breiten aus der frühen Jungsteinzeit (6.000 v. Chr.) freigelegt. Eine interessante Tatsache ist u.a., dass sich hier eine der ältesten Kopfsteinpflasterstraßen befand, die mit Bruch- und Flussstein bestückt war. Ein ebenfalls sehr interessanter Fund aus dieser Jungsteinzeitsiedlung ist ein Nephrit-Amulett in Form einer Swastika. Diese und viele andere interessante Exponate aus dem Alltag der Ost-Rhodopen von der frühesten Antike bis in die Gegenwart kann man im Regionalen Geschichtsmuseum in Kardschali besichtigen.
Man kann getrost behaupten, dass fast jede Handbreit Boden dieses heiligen Gebirges Funde der Thraker birgt, die einst in unseren Breiten ansässig waren. Bis heute erforschen Archäologen eine der bedeutendsten archäologischen Anlagen – Perperikon. Diese antike und heilige Stadt thront auf einem Berg in der Dschin-Tepesi-Gegend, was soviel wie „Gebirge der Geister“ bedeutet. Die ältesten Spuren menschlicher Tätigkeit stammen aus der späten Kupfersteinzeit Ende des 5., Anfang des 4. Jahrtausends v. Chr. Zu jener Zeit begannen die Menschen mit der Verehrung von Göttern und der Darbringung von Gaben. Freigelegt wurden einzigartige Fragmente von kleinen Kulttischen, Teile von Götzen sowie ein kleines Gefäß in Form eines Rebhuhns, in dem offenbar Rauschmittel aufbewahrt wurden, mit deren Hilfe sich die Priester in einen tranceartigen Zustand versetzten. Sehenswert ist zudem der berühmte Dionysos-Altar, den die Thraker für ein spezielles Ritual nutzen. Man goss Wein auf, dem eine Flamme folgte, aus deren Höhe man dann die Zukunft vorhersagte. Unbedingt besichtigen sollte man zudem den massiven, in den Fels gehauenen Thron, der getreu dem Sonnenkult der Thraker nach Osten ausgerichtet ist, um alltäglich die ersten Strahlen der Morgensonne zu empfangen. Darüber hinaus wurde an der höchstgelegenen Stelle des Berges eine prächtige einschiffige Basilika aus einer späteren Epoche entdeckt. Bis heute erhalten ist eine Bischofskanzel, von der aus die Geistlichen ihre Predigten hielten.
Ein weiteres touristisches Highlight ist der Kultkomplex Tatul. Man nimmt an, dass diese vor 6.000 Jahren entstandene Anlage älter als die ägyptischen Pyramiden ist. Sie umfasst ein heidnisches Felsheiligtum aus der Antike sowie eine mittelalterliche Festung. Man vermutet u.a., dass es sich hierbei um das Heiligtum des Orpheus als auch um die letzte Ruhestätte des mythischen Sängers handeln könnte. „Freigelegt wurde eine sehr schöne Orpheus-Statuette, die den Sänger in aufrechter Haltung verkörpert", erzählt Marina Kutelowa. "Seine linke Hand ist auf eine Lyra gestützt, in seiner Rechten hält er ein Zupfplättchen. Die 10 cm hohe Statuette ist ein meisterliches Gussstück aus der Römerzeit. Auch stieß man auf ein Fragment eines Lehmaltars und einen Priesterstab sowie mehrere römische Münzen. Auf einer Münze ist Orpheus umgeben von Waldgetier abgebildet, eine andere zeigt ihn hoch auf einem Fels. Auf einer dritten Münze ist eine Maid dargestellt, die die Königin Rodopa verkörpert. In ihrer Hand hält sie eine einzigartige einheimische Blume – eine Haberlea rhodopensis. Die Pflanze besitzt die außergewöhnliche Eigenschaft, 31 Monate im Scheintod zu verharren, um dann unter geeigneten Bedingungen zu neuem Leben zu erwachen. Der Legende nach soll sie aus dem Blut des Orpheus erwachsen sein.“
Von den unglaublichen Astronomie-Kenntnissen der Thraker zeugen archäoastronomische Untersuchungen des Felsheiligtums Harman Kaja. Hier wurden zwei Terrassen mit mehreren amphitheatralischen Halbkreisen in den Felsen gehauen, die offensichtlich der Bestimmung des Jahreskreislaufs und der Frühjahrs- und Herbstsonnenwende dienten. Von der näheren Vergangenheit in den Ost-Rhodopen zeugen mittelalterliche Klöster in unmittelbarer Nachbarschaft muslimischer Kultkomplexe. Am rechten Arda-Ufer erhebt sich inmitten von Kardschali das mittelalterliche Kloster „Hl. Johannes der Täufer“. Das Dorf Pokowa wiederum beeindruckt mit der einzigen in Bulgarien erhaltenen Holzmoschee, die auch als „Moschee der sieben Mädchen“ bekannt ist.
„Die 1438 erbaute Holzmoschee ist ein Kulturdenkmal von nationaler Bedeutung“, erzählt Marina Kutelowa. „Der Legende nach soll sie von sieben Mädchen erbaut worden sein, deren Liebste ihr Leben auf dem Schlachtfeld ließen. Sie veräußerten ihre gesamte Aussteuer, kauften von dem Erlös riesige Holzbohlen und erbauten die Moschee in einer Nacht. Interessant ist die Tatsache, dass der Sakralbau ohne einen einzigen Nagel errichtet wurde. Danach verschwanden die Mädchen auf Nimmerwiedersehen.“
Die Holzmoschee funktioniert auch heute noch. Falls Sie hier die Gläubigen beim Gebet antreffen sollten, werden Sie mit Sicherheit mit offenen Armen empfangen und bewirtet. Bekanntschaften mit der ausgesprochen gastfreundlichen und herzlichen örtlichen Bevölkerung gehören zu den unvergesslichen Erlebnissen einer Rhodopen-Reise. Neben altertümlicher Geschichte und gastfreundlichen Menschen beeindrucken die Ost-Rhodopen mit ihren unglaublichen Naturphänomenen. Hier hat die Natur gleich einem geschickten Bildhauer unglaublich bizarre Formen in den Fels gemeißelt, denen die Einheimischen Namen wie Steinerne Hochzeit, Steinerne Pilze, Schildkröten, Krokodil etc. gegeben haben.
Auch Liebhaber von Abenteuersport kommen auf ihre Kosten. Die Region bietet ausgezeichnete Möglichkeiten für Bergkletterer, Kajak und Rafting. Mehrere Kilometer lange Felskronen, die bis zu 120 m hoch in den Himmel ragen, lassen das Herz eines jeden passionierten Bergkletterers höher schlagen. Der Arda-Fluss als auch die Stauseen Kardschali und Studen Kladenetz wiederum bieten beste Voraussetzungen für Kajak und Rafting. Sich auf das Wasser begebend, kann man zudem die malerische Landschaft genießen und Lappentaucher, Reiher oder Schwarzstörche beobachten. Wenn man Glück hat, sieht man hier auch das ein oder andere Reh, das in den Abendstunden am künstlich angelegten Wasserspeicher seinen Durst stillt. Ein ganz besonderes Erlebnis ist die untergehende Sonne, deren Strahlen den Wassern des Stausees goldenen Glanz verleiht. Natürlich bietet diese märchenhafte Region auch traditionelle, aus Bio-Produkten zubereitete Rhodopen-Küche. Lammspieß (Chewerme), gefüllte Pfannkuchen (Katmi), Maisbrei (Kachamak), Joghurt sowie hausgemachter Salzlaken- und Gelbkäse – sind nur einige der zahlreichen Spezialitäten, die die Sinne in Versuchung führen. Auch ist die Region für ihre Banitza-Vielfalt berühmt. Unbedingt probieren sollten Sie die „Kapana Banitza“, was so viel wie „Gebadete Banitza“ bedeutet.
„Dabei werden die ausgerollten Teigblätter zuerst kurz in heißes, dann in kaltes Wasser gegeben und danach reichlich mit Butter beträufelt“, erklärt Marina. „Die Füllung wird aus Fleisch, in der Regel Hühnerfleisch, zubereitet. Seit mehreren Jahren gibt es zudem ein Banitza-Festival, um die enorme Vielfalt aufzuzeigen, wie etwa türkische Spezialitäten, thrakische Banitza, deren Rezept von Flüchtlingen aus Ägäis-Thrakien stammt, und natürlich die klassische Banitza.“
Übersetzung: Christine Christov
Fotos: Rumjana Zwetkowa
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