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"Einigkeit macht stark" oder "Rette sich, wer kann"

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Bokova oder Georgieva? Die für Bulgarien so typische Spaltung liegt bereits vor.
Foto: Archiv

Vor nicht all zu langer Zeit fragte mich ein Kollege aus Deutschland, welche weltberühmte Bulgaren es gebe. Ich wollte intellektuell glänzen und nannte nicht den mir als aller erstes in den Sinn gekommenen Namen des Weltfußballers Hristo Stoichkov, sondern nach kurzem Überlegen den seines Namensvetters Christo. "Ach, er kommt aus Bulgarien?", erwiderte überrascht der Kollege. Dieser Punkt ging an mich. Doch, ich wechselte rasch das Thema, denn nach dem Verpackungskünstler und dem verschwiegenen Fußballstar fiel mir sonst kein weiterer Name ein.

Würden wir mit meinem deutschen Kollegen auf das Thema in einem Jahr zurückkommen, könnte ich vermutlich den Namen des UN-Generalsekretärs nennen. Genauer gesagt: der UN-Generalsekretärin. Denn die Aussichten, dass eine Bulgarin den höchsten Posten in den Vereinten Nationen übernimmt, stehen gar nicht so schlecht. Würden wir uns, Bulgaren, nicht selber im Wege stehen. Bulgarien hat seine Nominierung noch nicht endgültig ausgesprochen, obwohl es gleich zwei potentielle Kandidatinnen ins Rennen schicken könnte. Die Generaldirektorin der UN-Kulturorganisation UNESCO, Irina Bokova, wirbt seit Monaten für sich. Ihr Pech scheint aber zu sein, dass sie von der 2014 zurückgetretenen sozialistischen Regierung unterstützt wurde. Die amtierende Mitte-Rechts-Regierung von Ministerpräsident Bojko Borissow hat sich noch nicht entschieden. Mit der Vizepräsidentin der EU-Kommission, Kristalina Georgieva, hat sie zudem eine Konkurrentin an der Hand, die über ein starkes internationales Profil verfügt. Dass der scheidende UN-Generalsekretär Ban Ki-moon sie in ein hochrangiges Gremium zur Finanzierung von humanitärer Hilfe berufen hat, wird zudem als ein Zeichen gewertet, dass Georgieva zu seinen Topfavoritinnen zählt.

Die bevorstehende Wahl rief eine kontroverse Diskussion in Bulgarien hervor, die bis vor kurzem hauptsächlich in den sozialen Netzwerken ausgetragen wurde. Nun aber kommt allmählich auch die Regierung in Bedrängnis, denn die Zeit drängt – spätestens in acht Wochen muss sich Bulgarien entscheiden. Der Regierungschef beruhigte diese Woche die immer lauter fragenden Journalisten: "Wir warten auf den richtigen Zeitpunkt, so dass die Chancen für eine Wahl am höchsten sind", sagte Borissow. Derweil wächst auch der politische Druck. Die sozialdemokratische ABW von Ex-Präsident Georgi Parwanow drohte sogar, die Unterstützung für das Kabinett zurückzuziehen, sollte die Kandidatur von Irina Bokova nicht bestätigt werden.

Man würde sagen, die wieder ins Amt gewählte UNESCO-Chefin sei die denkbar beste Nominierung für den höchsten Posten in den Vereinten Nationen. Nach einem ungeschriebenen Rotationsprinzip soll der Chefdiplomat der Welt diesmal aus Osteuropa kommen. Die ungeschriebenen diplomatischen Regeln besagen weiter, dass die Nachfolge von Ban Ki-moon am besten an eine Frau gehen muss. Bokova erfüllt beide Kriterien. Doch, der Name Bokova spaltet die bulgarische Öffentlichkeit. Denn die heute 63-Jährige entstammt einer Kaderfamilie der kommunistischen Elite und genoss vor der Wende Privilegien, die für "Normalsterbliche" undenkbar waren. So durfte sie nach dem Studium in Moskau im Alter von 25 Jahren in den diplomatischen Dienst eintreten, und wurde kurzerhand nach New York entsandt. Die Wende tat ihrer Karriere nichts an. Und genau das werfen ihr die Kritiker des kommunistischen Regimes vor, denn Bokova hat in all den Nachwendejahren die Diktatur nie verurteilt.

Bereits vor einem Jahr unterstütze Ministerpräsident Borissow Bokova als aussichtsreiche Kandidatin für den Chefposten in der UNO, kurz darauf tauchte aber ein zweiter Name im Rennen auf, denn die bulgarische EU-Kommissarin Kristalina Georgieva ließ Interesse an dem Posten erkennen. Sie gilt als ein Trumpf in der Hand von Regierungschef Borissow, nachdem sie 2010 von der Weltbank in Washington nach Brüssel gekommen war, um ihn damals aus der Patsche mit einer misslungenen Kandidatur für die EU-Kommission zu helfen.

Welche der beiden Diplomatinnen nun auch ins Rennen geschickt wird, die für Bulgarien so typische Spaltung liegt bereits vor. In einem selbstironischen Witz heißt es nicht von ungefähr: "Ein Bulgare – ein Kämpfer; zwei Bulgaren – eine Kampftruppe; drei Bulgaren – Kampftruppe mit Verräter." Der Volksmund hat trefflich die Einzelgängernatur der Bulgaren beschrieben. Aber auch ihren Hang, den Gegner auszuspielen und sich so letztendlich selbst zu schaden. In der bulgarischen Geschichte gibt es reichlich Beispiele des Scheiterns, weil man sich nicht einen konnte. Viele Niederlagen, und zwar bei weitem nicht nur auf dem Kriegsfeld, sind auf Zwist und Spaltung zurückzuführen, obwohl über dem Haupteingang des bulgarischen Parlaments geschrieben steht: "Einigkeit macht stark".

Nun hat das kleine Bulgarien, das insgeheim trauert, auf der Weltbühne keine Rolle zu spielen, die Chance, eben diese Weltbühne zu betreten und nicht länger nur ein weißer Fleck auf der Landkarte zu sein. Ist es eine Sache, die uns einen kann? Sind wir überhaupt zu Kompromissen im Namen eines übergestellten Ziels fähig? Oder sind wir doch nur Einzelgänger, die treu dem Motto durchs Leben schreiten: "Rette sich, wer kann"? Der Erfolg einer bulgarischen Kandidatin für den Posten des UN-Generalsekretärs bedarf einer zielgerichteten, gut durchdachten und koordinierten diplomatischen Vorarbeit. Davon gibt es derweil keine Spur. Stattdessen setzt Bulgarien auf Verzögerungstaktik, um seine eigene Unsicherheit zu vertuschen. Was uns nicht überraschen darf, denn die vorausschauende Politik war nie Bulgariens Stärke.



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