Eine Äußerung der bulgarischen Parlamentspräsidentin hat für Aufsehen in der bulgarischen Gesellschaft gesorgt und wird dem Image der Regierenden ernsthaft schaden. „Ihr macht euch auf den Weg, protestiert gegen den bösen Borissow, steigt dann in die U-Bahn und fahrt nach Hause. Dann geht doch lieber zu Fuß!“ (weil Borissow immer sagt, dass er die U-Bahn gebaut hat - Anm. d. Red.), sagte Zweta Karajantschewa und kommentierte die Proteste und das bisher von der regierenden GERB-Partei Geleistete. Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten – in den sozialen Netzwerken wimmelt es nur so vom Status „Ich gehe zu Fuß“. Und Politikwissenschaftler sind der Meinung, dass es sich um einen soziokulturellen Konflikt handelt, der die Unterstützung für die Regierungspartei bei eventuellen vorgezogenen und sogar regulären Wahlen im März 2020 ernsthaft beeinträchtigen wird.
„GERB regiert stur weiter und verliert ständig an Zustimmung“, sagt der Politikwissenschaftler Iwo Indschow in einem Interview für das Inlandsprogramm „Horizont“ des BNR und fügt hinzu: „Vielleicht gibt es einige Abhängigkeiten, die den Rücktritt von Premierminister Borissow verhindern. Die Hypothesen reichen von Abruf von Finanzmitteln über Verwischung von Spuren während der Regierungszeit bis hin Spekulationen, dass die „Bewegung für Rechte und Freiheiten“ (DPS) ihm nicht erlaubt, zurückzutreten. GERB regiert hartnäckig und mit großem Hass nicht nur den Demonstranten, sondern offensichtlich auch einem großen Teil der Bürger gegenüber, die die Proteste unterstützen. Und die arrogante Art von Parlamentspräsidentin Zweta Karajantschewa stimmt immer mehr Menschen nicht nur gegen sie persönlich, sondern auch gegen die Art und Weise, wie GERB funktioniert.“
Laut dem Politikwissenschaftler Iwo Indschow kehrt die politische Sprache angesichts der GERB-Führer „wie ein Bumerang zu dieser politischen Kraft zurück, und das verärgert und empört die Menschen zunehmend, denn über den Protest gegen Korruption hinaus ist der Konflikt bereits soziokulturell geworden, denn es geht um gegenseitiges Verständnis, Umgang und Kommunikation“.
Die Geschehnisse in Bulgarien sind auf die Tagesordnung des Europäischen Parlaments gekommen. Die Proteste im Land sind jedoch nicht so massiv wie Anfang Juli und die Wahrscheinlichkeit nimmt zu, dass die Regierung ihre Amtszeit zu Ende bringt.
„Es ist nicht notwendig, dass jeden Tag 10.000 bis 20.000 Menschen auf die Straße gehen, da der Protest nicht nur die Agenda Bulgariens geändert hat, sondern auch Bulgarien in den Fokus der Weltmedien und der europäischen Institutionen gerückt hat. Wenn GERB die regulären Wahlen gewinnt, wird dies mit viel geringeren Prozentsätzen geschehen, als wenn sie jetzt zurücktritt“, sagte Iwo Indschow gegenüber BNR.
Ob es in Bulgarien zu einer Neuordnung des politischen Spektrums kommen wird, bleibt abzuwarten. Am vergangenen Wochenende gründete der frühere Zweite in GERB Zwetan Zwetanow sein neues politisches Projekt „Republikaner für Bulgarien“. Pawel Walnew, ein bulgarischer Geschäftsmann aus Chicago, wurde zu seinem Stellvertreter gewählt. Dies ist ein Zeichen dafür, dass eine der Prioritäten der neuen Partei darin bestehen wird, sich um die Bulgaren im Ausland zu kümmern und ihr Recht auf eine Beteiligung an den Wahlen durch elektronische Abstimmung zu gewährleisten. Zwetanow reichte den protestierenden Bulgaren im In- und Ausland die Hand und erklärte, dass „die Wissenden und Könnenden einen Platz in diesem Projekt haben“. Er sprach sich ebenfalls für eine elektronische Abstimmung aus, was zu den Hauptforderungen der Proteste gehört.
Die Formation „Republikaner für Bulgarien“ wird die Unterstützung der Wähler für GERB sicherlich untergraben und „mindestens ein paar Prozent“ ihrer Stimmen auf sich ziehen. Ihr werden die Kräfte sicherlich nicht ausreichen, um ins Parlament einzuziehen, aber sie wird die GERB noch mehr schwächen, prognostiziert der Politikwissenschaftler Iwo Indschow.
Es werden auch Vermutungen angestellt, ob diese Partei eine Koalition mit den rechten Kräften bilden könnte. „Demokratisches Bulgarien“ wird jedoch sehr vorsichtig sein, mit wem es ein Bündnis eingeht, da jede, selbst rein hypothetische Möglichkeit einer Koalition mit GERB nicht nur von den Parteimitgliedern, sondern auch von rechten Sympathisanten heftig kritisiert wird.
Änderungen und Fragen gibt es auch, was die älteste Partei in Bulgarien angeht – die Bulgarische Sozialistische Partei (BSP). Nachdem die Sozialisten Kornelia Ninowa auf ihrem Kongress letztes Wochenende als Vorsitzende wiedergewählt haben, hat sie einen neuen Nationalrat zusammengestellt. Prominente Persönlichkeiten wie der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Europas Sergej Stanischew, der Vize-Präsident der 44. bulgarischen Volksversammlung Waleri Schabljanow, der langjährige Abgeordnete Georgi Pirinski und andere fanden jedoch keinen Platz im Leitungsgremium der Partei. Jetzt wird Ninowa einen konsolidierten Nationalrat hinter sich haben, in dem es jedoch an herausragenden Persönlichkeiten mangelt und sie wenig kritisiert wird, prognostiziert Iwo Indschow. Die Opposition in der BSP werde eine konjunkturelle sein, fügte er hinzu. Die große Frage laut dem Politikwissenschaftler sei jedoch, ob die BSP unter Berücksichtigung der Werte des 21. Jahrhunderts wie beispielsweise Umweltfragen und Rechte von Minderheiten einen linken Flügel bilden wird, damit die Partei nicht allein auf die soziale Frage fixiert ist. „Falls kein solcher Flügel gebildet wird, wird sich die BSP einkapseln.“
Es besteht die Möglichkeit, dass Ninowas BSP die GERB besiegt, wenn auch mit einem kleinen Vorsprung, sagt der Analyst voraus:
„Auf nationaler Ebene sollten wir den Folgen der anhaltenden politischen Agonie Rechnung tragen. Je länger die Wahlen hinausgezögert werden, desto schwächer werden die Positionen von GERB. Die stille Mehrheit, die die Proteste unterstützt, wird noch wütender sein. Wenn es eine höhere Wahlbeteiligung gibt - und die wird es höchstwahrscheinlich geben – dann wird sie ebenfalls gegen GERB gerichtet sein“, sagte der Politikwissenschaftler Iwo Indschow abschließend in einem Interview für den Bulgarischen Nationalen Rundfunk.
Zusammengestellt von: Elena Karkalanowa
Übersetzung: Rossiza Radulowa
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